Ketchums „Evil“ ist im Original 1989 erschienen, auf Deutsch wurde der Roman 2006 veröffentlicht. Weiß der Teufel, warum. Der Text ist mitreißend, spannend, eindringlich und letzten Endes unglaublich schmutzig. Ist das ein Horror-Roman? Ja, ein wirklicher Horror-Roman, finde ich. Auch wenn hier keine außerirdischen Monster, keine Werwölfe und erst recht (und Gott sei Dank) keine Vampire vorkommen. Die einzigen und größten Monster sind (ja, ja, abgedroschen, aber nie so wahr wie hier!) Menschen. Und da kann man das ganze Personal der Handlung durchgehen, niemand ist unschuldig.
Die Geschichte wird aus der Sicht des zwölfjährigen Davids erzählt, der mit einer ganzen Bande von Kleinstadtkindern das Leben entdeckt. Ins Nachbarhaus ziehen die Schwestern Meghan und Susan Loughlin ein, die bei einem Autounfall ihre Eltern verloren haben. Ihre Tante Ruth soll sie aufziehen, David freundet sich mit Meg an, er beginnt, sie zu bewundern.
Das alles wird von Ketchum eingebettet in eine 50er-Jahre-Kleinstadtidylle, die man aus früheren Werken Stephen Kings kennt. Doch anders als der, holt Ketchum die wirkliche Keule raus.
Der Horror kommt schleichend und für alle unmerklich. Ruth ist eine vom Leben enttäuschte und verbitterte Mutter. Meghan, die mit ihrer erwachenden Schönheit und Sexualität in diesem Haus von Anfang an deplaziert wirkt, ist ein willkommener Puffer für Ruths aufgestauten Frust. Es beginnt ein „Spiel“, in das alle Kinder Ruths einbezogen werden, ebenso wie – später – David. Meg wird gefangen gehalten, immer hemmungsloser misshandelt und gefoltert.
Mehr zu verraten, würde heißen, man nimmt die Spannung des Lesens. Aber viel mehr braucht man nicht zu wissen über die Handlung, um zu verstehen, wie wichtig der Roman ist. Ich würde ihn nicht auf eine Stufe mit „Herr der Fliegen“ stellen, dazu hat Ketchum nicht das Potential eines Goldings, aber in der Thematik ähneln sich doch beide. Zumindest, wenn man die Schlussfolgerungen anschaut.
Wie passiert es, dass ein Mensch dem anderen Böses antut. Wer trägt Verantwortung, wer trägt Mitschuld. Ketchum urteilt nicht (oder nur selten), er beschreibt und lässt den Leser selbst sein Urteil fällen.
Eine ganz wichtige Frage des Buches: Inwieweit ist der Wegfall einer Autorität (oder einer moralischen Instanz) vonnöten, um solche Grausamkeiten geschehen zu lassen. Ruth, die einzige Erwachsene in diesem Haus, erlaubt für die Kinder quasi die Handlungen. Beginnt es hin und wieder mit dem Anbieten eines Bieres an die Minderjährigen, so heißt sie im Laufe des Geschehens Taten gut, die man niemals gutheißen darf.
Davids Gewissen meldet sich viel zu spät, auch er macht sich schuldig.
Man liest das Werk und ist erschüttert, man meint, so etwas könne nicht passieren. Ich persönlich war fasziniert von der Filigranität, mit der Ketchum eine Brutalität an die andere reiht. Doch irgendwann erfuhr ich, dass er seinen Roman aufgrund wahrer Tatsachen geschrieben hat. Der Fall Sylvia Likens erregte im Jahre 1965 großes Aufsehen in den USA. Er bildete die Grundlage für dieses Buch, beschäftigt man sich mit dem Fall, verliert man den Glauben an das Gute im Menschen.
„Evil“ ist starker Tobak, realistisch und absolut authentisch. Ketchum versteht es die Figuren psychologisch stimmig anzulegen, genau das ist es, was einem einen Schauder nach dem anderen über den Rücken jagt.
Sehr zu empfehlen.